Stefan
Micheler
Frank Sparing: "...wegen Vergehen nach § 175 verhaftet."
Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus.
Grupello Verlag, Düsseldorf 1997. 229 S., 29,80
DM.
Die Diffamierung, Ausgrenzung und Verfolgung "Homosexueller", insbesondere
während des Nationalsozialismus, ist bis heute Schwerpunkt der deutschsprachigen
zeitgeschichtlichen Forschung über gleichgeschlechtlich orientierte
Männer. Seitdem Mitte der siebziger Jahre zunächst Aktivisten
der Schwulenbewegung begannen, "ihre" Geschichte zu erforschen, indem sie
auf das Schicksal von "Homosexuellen" als ausgegrenzte Opfer des Nationalsozialismus
aufmerksam machten, hat es eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu
diesem Thema gegeben, wobei Fragestellungen und Methoden erweitert sowie
neue Quellengruppen erschlossen wurden. Frank Sparings Untersuchung ist
eine der herausragenden Veröffentlichungen der letzten Jahre. Sie
geht weit über den Rahmen einer Lokalstudie hin und vermittelt durch
ihre Themenbreite und die Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven ein umfassendes,
klares Bild der Verfolgung gleichgeschlechtlich orientierter Männer,
wobei der Funktionsweise des nationalsozialistischen Verfolgungsapparates
das Hauptinteresse gilt. Vor dem lokalgeschichtlichen Hintergrund der Großstadt
Düsseldorf wird auch die reichsweite Entwicklung deutlich sichtbar.
Gleichzeitig liefert Sparing einen guten Überblick über die jüngste
Forschung, mit der er sich kritisch auseinandersetzt.
Sparing
wertet alle 360 Gestapo-Akten aus dem Hauptstaatsarchiv NRW aus, die gleichgeschlechtlich
orientierte Männer aus Düsseldorf betreffen. Die Berücksichtigung
von Akten der Düsseldorfer Kriminalpolizei war nicht möglich.
Sie konnten nicht mehr vorgelegt werden, obwohl noch in den achtziger Jahren
aus ihnen zitiert wurde. Ihr Verbleib ist unklar.Sparing betont deutlich,
daß es sich bei den Akten um Zeugnisse des Verfolgungsapparats handelt
und schließt sich hinsichtlich der Bewertung der Verhörprotokolle
dem Bild Bernd A. Rusiniks vom "Krieg mit ungleichen Mitteln" an: "Alle
Aussagen wurden von den Vernehmungsbeamten in die Sprache der Verfolgungsbürokratie
übersetzt und nicht selten zuungunsten der Beschuldigten verfälscht,
da die Beamten daran interessiert waren, möglichst viele Festgenommene
zu überführen. Vernehmungsprotokolle der Gestapo sind daher in
erster Linie als Selbstdarstellungen der vernehmenden Beamten zu werten"
(S. 12).
Sparing zeigt Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Verfolgung
von Homosexualität von der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik
der sechziger Jahre auf. Sein Blick richtet zunächst auf die Bürgerrechtsbewegung
und die Subkultur gleichgeschlechtlich orientierter Männer und Frauen
während der Weimarer Republik, die kurz nach der nationalsozialistischen
Machtübernahme weitgehend zerschlagen wurden. Homosexualität
habe aus dem öffentlichen Erscheinungsbild verschwinden sollen, die
Aktionen der ersten Monate seien aber nicht gegen die sexuelle Orientierung
Einzelner und damit gegen "Homosexuelle" als Personen gerichtet gewesen.
Auch der § 175 StGB wurde im Sinne sexueller Denunziation dazu benutzt,
politische Gegner auszuschalten. Damit "stellte sich die NS-Führung
als Bastion bürgerlicher Respektabilität dar, und bewirkte zugleich
eine breite Mobilisierung von Aggressionen und Antipathien gegenüber
Homosexuellen [...]" (S. 54).
Sparing untersucht die "juristische, wissenschaftliche und politische
Begründung der Homosexuellen-Verfolgung" und kennzeichnet dabei auch
die unterschiedlichen Haltungen verschiedener Experten, konkurrierende
Theoriebildungen innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und unterschiedliche
Handlungsstrategien der NS-Machthaber, kann aber nicht alle Widersprüche
klären. So bleibt die Kategorie des "typischen Homosexuellen" (im
Sinn von "unveränderbar"), die für die später dargestellte
Urteilspraxis der Gerichte wichtig ist, unklar. Er stellt fest, daß
sich die "Verführungsthese" gegenüber erbbiologischen Ansätzen
als Erklärung der Ursache von Homosexualität durchsetzen konnte,
da die Erbbiologie kein Erfassungsinstrumentarium zur Feststellung von
Homosexualität habe entwickeln können. - Welches Humangenetiker
unserer Gegenwart nun gefunden haben wollen.
Wesentlicher Bestandteil der Untersuchung ist die Darstellung der Verfolgungspraxis
anhand der Gestapo-Akten. Sparing referiert die ersten Verfolgungsmaßnahmen
nach dem "Röhm-Putsch" von 1934, die Tätigkeit der Reichszentrale
zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung, die
ab 1936 alle bekanntgewordenen gleichgeschlechtlich orientierten Männer
in einer Kartei erfaßte und reichsweit Verfolgungsmaßnahmen
koordinierte. Die Verfolgung wurde durch die örtlichen Kripo- und
Gestapo-Stellen vorgenommen, wobei die Aufgaben in der Praxis vermutlich
nach pragmatischen Gesichtspunkten verteilt wurde. Sonderkommandos der
Gestapo wurden in Berlin, Hamburg und in verschiedenen Großstädten
des Rheinlands tätig. Szene-Treffpunkte wurden observiert, in Gaststätten,
von denen, um eine bessere Kontrollmöglichkeit zu haben, nicht alle
geschlossen worden waren, und in "Klappen" wurden Razzien durchgeführt.
Auch wurden Gestapo-Beamte als "Lockvögel" eingesetzt; jemanden in
flagranti zu ertappen, war offensichtlich von großer Bedeutung. Die
meisten Verhaftungen gingen auf Aussagen anderer Festgenommener, häufig
auf die von Strichjungen, zurück. Stricher wurden wie Kneipenwirte
und Hotelbesitzer zur Kollaboration gezwungen; Stricher mit dem Versprechen
milderer Strafen, Wirte und Hoteliers mit der Drohung, die Konzession entzogen
zu bekommen. Folter bei Vernehmung und während der Haft waren keine
Seltenheit. Das Interesse der Verfolger ist deutlich: Verbrechensbekämpfung
um der eigenen Karriere willen, wozu fast alle Mittel recht waren. Anhand
von Kurzbiographien der Polizeibeamten wird deren beruflichen Werdegang
skizziert. Viele von ihnen waren schon vor 1933 bekennende Nationalsozialisten.
Sparing
zeichnet das Schicksal der Verurteilten nach: verschärfte Haftbedingungen
in Gefängnissen, Zwangspsychiatrisierung, Zwangskastrationen, Vernichtung
durch Arbeit in Strafanstalten und Konzentrationslagern.
Die Urteilspraxis wird anhand der Gestapo-Akten untersucht. Oft unterliefen
Gestapo-Beamte Urteile, die sie für zu milde erachteten, durch Schutz-
und Vorbeugehaft oder Verbringung in Konzentrationslager. Auch für
Männer, die das Glück hatten, nach Verbüßen der Haft
nicht in "Schutzhaft" genommen zu werden, war die Folge der Verurteilung
soziale Deklassierung, denn Arbeitsplatzverlust, Ausschluß aus den
Berufszwangsverbänden und Vereinen waren deren zwangsläufige
Folgen. Gleichzeitig waren die Männer zahlreichen Schikanen ausgesetzt,
die sich aus den Auflagen der Gestapo für das Alltagsleben ergaben,
zum Beispiel einem Benutzungsverbot für bestimmte öffentliche
Verkehrsmittel.
Die Reaktion von gleichgeschlechtlich orientierten Männern auf die Verfolgung
wird unter anderem anhand der Auskünfte aus den Verhörprotokollen
dargestellt. Die Ermordung der SA-Führung 1934, die Verschärfung
des § 175 im Jahr 1935 und die Prozesse gegen katholische Geistliche
1936/37 wurden als Signale für ein schärferes Vorgehen der Verfolgungsapparate
angesehen, auf das mit mehr Vorsicht reagiert wurde. Die vollständige
Verdrängung der Homosexualität aus der Öffentlichkeit führte
bei Männern aus allen Schichten zum Ausweichen auf oberflächliche
Bekanntschaften, vor allem auf kurzfristige anonyme Sexualkontakte. Da
wegen der sozialen Kontrolle selbst die eigene Wohnung kein sicherer Ort
für Begegnungen mehr sein konnte, wurde auf Klappen, aber auch auf
Kinos und Schwimmhallen ausgewichen. Sexualität wurde, wenn sie überhaupt
noch praktiziert wurde, vom Alltagsleben abgespalten. Nur wenigen materiell
Bessergestellten war es möglich, "homosexuelle" Freundeskreise aufrechtzuerhalten.
Die extreme Armut aufgrund der Weltwirtschaftskrise führte während
der ersten Jahre der NS-Diktatur zu einem Anwachsen der männlichen
Prostitution. Bei vielen Strichern gab es aufgrund dieser extremen Not
und ihrer homophoben Grundeinstellung auch eine geringe Hemmschwelle, Freier
zu erpressen, beziehungsweise zu denunzieren, wenn diese nicht zahlten.
Sparing stellt fest, daß sich einige Verhaftete während der Verhöre
negativ über Homosexualität äußerten, und deutet diese
Abgrenzung als Zeichen "nicht sehr ausgeprägten Selbstbewußtseins"
(S. 132), läßt dabei aber außer acht, daß es sich
hierbei um Selbstschutz handeln könnte. Gleichzeitig finden sich in
den Akten aber auch viele Aussagen von Männern, die die homosexuelle
Identität positiv angenommen haben.
Implizit ist Sparings Untersuchung auch eine Auseinandersetzung mit Burkhard Jellonneks
Dissertation von 1990, die als Standardwerk zur Verfolgung "Homosexueller"
in der NS-Zeit gilt. Jellonnek hat für diese Untersuchung unter anderem
einen Teil der von Sparing herangezogenen Gestapo-Akten ausgewertet. Sparing
kritisiert beanstandet, daß Jellonnek die Angaben der Verfolger kritiklos
in seine Untersuchung übernommen habe, und kommt bei seiner Untersuchung
auch zu Ergebnissen, die Jellonnek widersprechen. So hält er dessen
These, vorwiegend Angehörige der Unterschicht hätten anonymen
Sex auf Klappen gehabt, für nicht bestätigt.
Insgesamt zeichnet sich Sparings Arbeit durch eine sehr sensible Annäherung
an das Thema und die Schicksale der Verfolgten aus. Er nimmt auch auf die
Verfolgung gleichgeschlechtlich orientierter Frauen Bezug und führt
den unterschiedlichen Umgang der NS-Machthaber mit männlicher und
weiblicher Homosexualität auf die "jahrhundertelange patriarchalische
Tradition" zurück (S. 13). Sparing ordnet die Verfolgung gleichgeschlechtlich
orientierter Männer in den Gesamtzusammenhang des NS-Terrors ein,
in wissenschaftlicher Hinsicht eine Selbstverständlichkeit, die man
aber in vielen anderen Untersuchungen vermißt. Bedauerlich ist, daß
Sparing die Konstruktivismus-Debatte völlig ausblendet. So bezeichnet
er alle Männer, mit Ausnahme jener, die mittels des § 175 politisch
ausgeschaltet werden sollten, als "Homosexuelle", ohne zu hinterfragen,
ob sie sich selbst auch als solche wahrnahmen. Teilweise verwendet er auch
den Begriff "schwul", eine Kategorie der siebziger Jahre.
Stefan Micheler
Januar 1998
Micheler, Stefan: Buchbesprechung: Sparing, Frank: "... wegen Vergehen
nach § 175 verhaftet." Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen
während des Nationalsozialismus. Düsseldorf 1997. In: 1999, Zeitschrift
für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 1/99, S. 159-162.
http://www.StefanMicheler.de/wissenschaft/rez_sparing_1999.htm