Stefan
Micheler
Alexander Zinn: Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zur
Genese und Etablierung eines Stereotyps, Peter Lang Verlag, Frankfurt a.
M. 1997, 247 Seiten, 88,- DM.
Alexander Zinn untersucht die "Konstruktion einer ursächlichen Verknüpfung
von homosexueller Veranlagung und Nationalsozialismus" in der deutschen
Exilpresse zwischen 1933 und 1937. Er hat dafür 19 Exilperiodika unterschiedlicher
politischer Ausrichtung ausgewertet.
Dieses Konstrukt eines "wesenhaften Zusammenhangs zwischen Homosexualität und Faschismus" basierte auf
der verbreiteten Vorstellung, Männerbünde hätten einen homoerotischen
oder homosexuellen Charakter, und wurde durch das im August 1933 von kommunistischen
Emigranten herausgegebene Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror
etabliert. Die Herausgeber suchten die Schuld am Reichstagsbrand vom Februar
1933, den die NS-Machthaber zum Anlaß für die Verfolgung zahlreicher
politischer Gegner nahmen, bei den Nationalsozialisten selbst. Mittels
der Unterstellung, der Brandstifter Marinus van der Lubbe sei ein "Lustknabe"
von SA-Chef Ernst Röhm gewesen, konstruierten sie eine Verbindung
zwischen ihm und der NSDAP. Die Autoren konnten dabei von der üblichen
negativen Konnotation des Begriffs "Homosexualität" profitieren und
die gängigen diffamierenden Klischees über gleichgeschlechtlich
orientierte Männer, wie Eitelkeit, Falschheit, Erpreßbarkeit,
Untreue, (politische) Manipulierbarkeit und Unmännlichkeit, nutzen.
Hinzu kam, daß Röhm bereits ab 1929, ausgelöst durch die
Sexualdenunziation der SPD-Presse, mit homophoben Stigmata belegt worden
war, insbesondere mit "Cliquen- und Günstlingswirtschaft" sowie "Jugendverführung".
Diese tradierten Klischees über gleichgeschlechtlich orientierte Männer
wurden im Braunbuch als Erklärung für NS-Verbrechen und
damit für den Nationalsozialismus schlechthin angeboten.
In der Folge erschienen
in der Exilpresse viele Berichte, die das Stereotyp des homosexuellen Nazis
bedienten. Sie basierten auf einer schmalen empirischen Grundlage, wurden
aber aufgrund des Wahrnehmungskontextes im Exil nicht in Frage gestellt.
Die Autoren der verschiedenen Blätter bezogen sich vielmehr wechselseitig
aufeinander, womit aus dem anfänglich bewußt politisch benutzten
Stereotyp zusehends eine "Realität sui generis" wurde. Auch nach der
Ermordung Röhms 1934 wurde das Stereotyp aufrecht erhalten. Es wurde
behauptet, die Äußerungen der NS-Führung gegen Homosexualität
seien Heuchelei; gleichzeitig wurde nun verstärkt weiteren NS-Führern
Homosexualität unterstellt. Auch nachdem die massive Verfolgung von
gleichgeschlechtlich orientierten Männern in Deutschland (Dezember
1934) bekannt war, wurde das Stereotyp nicht infrage gestellt. Diese Repressionen
wurden anfangs als Machtkämpfe innerhalb der NSDAP gedeutet.
Nach der Saar-Abstimmung im Januar 1935 verschwand das Stereotyp weitgehend aus der Exilpresse.
Nunmehr fanden sich vereinzelt Beiträge gleichgeschlechtlich orientierter
Prominenter, wie Klaus Mann, Magnus Hirschfeld oder Kurt Hiller, die ein
differenziertes Bild entwarfen und sich gegen Sexualdenunziation verwahrten,
wobei Hirschfeld und Hiller aber Teile des Stereotyps übernahmen und
somit als Experten auch zu seiner Kolportierung beitrugen. Parallel dazu
wurde das Konstrukt des homosexuellen Nazis Bestandteil linker Faschismustheorien,
so bei Wilhelm Reich, Erich Fromm, Ernst Bloch und Konrad Heiden.
Methodisch und formal weist die Untersuchung leider einige Mängel auf: Zinn offenbart eine
fragwürdige Vorstellung von "Diskurs". Die das Stereotyp vom homosexuellen
Nazi problematisierenden Beiträge kommen zum überwiegenden Teil
von gleichgeschlechtlich orientierten Prominenten, die als "homosexuelle
Vorkämpfer" bekannt waren und nur gelegentlich publizierten, nicht
von den festen Redakteuren. Da Zinn vom Text an sich als Kategorie des
Diskurses sich ausgeht, differenziert er nicht zwischen Gast- und Redaktionsbeiträgen,
so daß diese als ebenbürtige Teile eines Gesamt-"Diskurses"
erscheinen. Somit kann er die Widersprüche bei der Einordnung einiger
Blätter hinsichtlich ihrer Stellung im Diskurs auch nicht auflösen.
Oft tritt die Analyse hinter der Deskription zurück, wobei sie leider auf einen sehr engen
Rahmen beschränkt bleibt. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, daß
Zinn das umfangreiche Material an einigen Stellen über den Kopf gewachsen
ist. So ist beispielsweise die Schlußfolgerung, daß die linken
Blätter das Stereotyp prägten, während die liberalen es
nur übernommen hätten, ungenau, da die von ihm zitierten Quellen
dieser Annahme eher widersprechen und er selber auch an anderer Stelle
der Untersuchung zu einem anderen Ergebnis kommt (S. 219). Schade ist,
daß Zinn nicht die weitergehende Frage aufwirft, ob die das Stereotyp
vom homosexuellen Nazi kolportierenden Berichte der Exilpresse einen Einfluß
auf die Verfolgung gleichgeschlechtlich orientierter Männer im Deutschen
Reich hatten.
Das Verdienst von Zinn ist es, die Forschung um einen wichtigen Gegenstand bereichert zu haben:
Er zeigt detailliert und präzise die Konstruktion des Stereotyps vom
homosexuellen Nazi und erschließt mit seinem Beitrag eine neue Quellengruppe;
der Niederschlag, den das Klischee vom homosexuellen Nazi in der deutschen
Exilliteratur fand, ist bereits 1990 von Jörn Meve untersucht worden.
Zinn verweist in seiner Untersuchung auch auf aktuelle Diskurse: Zwar sei das Stereotyp vom homosexuellen
Nazi nach 1945 weitgehend in Vergessenheit geraten, wurde aber dennoch
von einigen Linken in Deutschland rezipiert. So findet es sich in Reimut
Reiches Frühwerk, Ende der 60er Jahre, Klaus Theweleits Standardwerk
"Männerphantasien" (1977) und auch sehr plakativ in einem taz-Beitrag
von Nicolaus Sombart von 1987. Breitenwirkung hätten diese Ansätze
aber nicht gehabt. Insbesondere Zinns Auseinandersetzung mit Theweleits
Annahme einer "strukturellen Bedeutung" der Homosexualität "für
Funktion und Erhalt des nationalsozialistischen Herrschaftssystems" scheint
für die weitere Forschung innovativ zu sein. Eine fundierte Auseinandersetzung
mit diesem Teil des Werkes von Theweleit hat bis heute - auch aus schwuler
Perspektive - nicht stattgefunden.
Stefan Micheler
Januar 1998
Micheler, Stefan: Buchbesprechung: Zinn, Alexander: Die soziale Konstruktion
des homosexuellen Nationalsozialisten. Zur Genese und Etablierung eines
Stereotyps. Frankfurt/Main 1997. In: 1999, Zeitschrift für Sozialgeschichte
des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2/99, S. 175-177.
http://www.stefanmicheler.de/wissenschaft/rez_zinn_1999.html